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Doppeltür ins Freilichtmuseum

KULTURGESCHICHTE In Lengnau und Endingen lebte die jüdische und christliche Bevölkerung seit dem 17. Jahrhundert nebeneinander – in spannungsreicher, doch respektvoller Nachbarschaft. Das Projekt «Doppeltür» erinnert an dieses Erbe und knüpft an aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen an. Ein Besuch im Erinnerungsort.

(Quelle Artikel: AAKU – Aargauer Kulturmagazin Nr. 45, Seiten 22+23, Text Michael Hunziker)

Wir sind trotz der Pandemie im Fahrplan», sagt Lukas Keller, während er mit dem interessierten AAKU-Reporter für eine Besichtigungstour durch Endingen im Surbtal fährt. Der Präsident des Vereins Doppeltür ist zuversichtlich, dass bis 2023 das geplante Besucherzentrum zur jüdisch-christlichen Geschichte mit nationaler und internationaler Ausstrahlung in Lengnau eröffnet werden kann. Keller, der bis 2016 Gemeindeamman von Endingen war und auch im Dorf aufgewachsen ist, kennt die Geschichte der beiden Gemeinden aus nächster Nähe. «Wir sind hier umgeben von architektonischen Zeitzeugen, was in dieser Dichte einzigartig ist, für die Schweiz und auch für Europa», sagt er und biegt in die Rankstrasse ein.

Diese Strasse mit ihrer historischen Häuserzeile weist die typischen Doppeltüren auf, die als Symbol für das Projekt metaphorisch stehen. Die Doppeltüren sind entstanden, weil es im 18. Jahrhundert unter anderem untersagt war, dass Christen und Juden unter einem Dach wohnten. Zudem war es den Juden auch bis Mitte des 19. Jahrhunderts nicht erlaubt, Häuser zu besitzen – sie durften nur mieten.

Die christlichen Hauseigentümer passten ihre Häuser entsprechend an, damit die jüdische Population, die ab 1750 in diesen Dörfern aus dem Gebiet der alten Eidgenossenschaft zwangsangesiedelt wurde, Wohnraum erhielt (siehe Beitrag von Roy Oppenheim, S. 24). Auch wenn viele der heutigen Doppeltür-Häuser von Endingen und Lengnau renoviert und bei vielen nicht mehr die Originaltüren ersichtlich sind, sind sie doch Zeugen einer gesellschaftlichen Tradition und Praxis und verweisen auf die Geschichte des Nebeneinanders. Die Häuser jedenfalls, die heute etwa ein Sportgeschäft beherbergen oder auch als Wohnhäuser genutzt werden, verleihen dem Dorf in der Tat ein charakteristisches Ortsbild, das seinesgleichen sucht.

Geschichtliches Erbe retten
In der Nähe des Gemeindehauses von Endingen, das früher ein jüdisches Schulhaus war, steht ein weiteres Doppeltürhaus, das aber ziemlich verfallen ist. Keller weiss: «Es ist seit 50 Jahren nicht bewohnt, die Eigentümerin verstarb vor rund 100 Jahren, und die Erbgemeinschaft ist weit verästelt.» Solche Tatsachen erschweren bauliche Massnahmen oder gar Ankäufe zur Erhaltung des Ortsbildes – und sind leider keine Einzelfälle. «Unser Verein hat auch das Ziel, diese Gebäude zu retten, damit die Geschichte nicht verloren geht», erklärt Keller.

In das neue Begegnungszentrum wird auch der bestehende Jüdische Kulturweg mit seinen 15 Stationen integriert. Die restaurierte Mikwe, ein Badehaus für rituelle Waschungen etwa, ist ein gelungenes Beispiel dieses Vorhabens. «Es lassen sich nicht alle Bauten mit historischem Bezug ins kommunale Inventar schützenswerter Gebäude aufnehmen», erklärt Keller. So sei vor ein paar Jahren die jüdische Matzebäckerei gekauft und abgerissen worden, was in verschiedenen Kreisen zu Konsternation geführt hat. «Mit dem Begegnungszentrum wird wohl auch das Bewusstsein für diese einzigartigen Orte wachsen», hofft Keller.

Eintauchen und ausschwärmen
Vor eineinhalb Jahren nahm das Projekt «Doppeltür» eine entscheidende Wendung und konkretisiert sich zur Freude des Vereins, zu dessen Mitgliedern Gemeinden, der Kanton Aargau, jüdische Organisationen, Landeskirchen, Kirchgemeinden, öffentliche Institutionen, Vereine und Privatpersonen gehören. Der Verein hatte unverhofft die Gelegenheit erhalten, ein stattliches Doppeltürhaus im Zentrum von Lengau in unmittelbarer Nachbarschaft zur Synagoge aus dem Jahr 1844 zu erwerben. Eine Gönnerin mit Wurzeln in Endingen stiftete einen grossen Geldbetrag und ermöglichte den Kauf des Gebäudes. Der Kanton Aargau sprach Ende 2020 seinerseits 4,65 Millionen aus dem Swisslosfonds für das Projekt (4 Mio. für das Gebäude, 650 000 Franken für den Betrieb). «Dieses Kommittent des Kantons erleichtert uns das Fundraising für die restlichen Mittel enorm. Wir haben bereits viele positive Signale für weitere Unterstützung», sagt Keller.

Bevor mit dem Umbau des Hauses in ein zeitgemässes Begegnungszentrum begonnen werden kann, müssen derzeit noch denkmalpflegerische Aspekte hinschichtlich der Einbindung in das Dorfbild geklärt werden. Im Innern soll das Raumprogramm den drei thematischen Fokussierungen entsprechen: Das Unter- und Erdgeschoss soll den Besucher*innen ermöglichen, in die Geschichte «abzutauchen» und das Surbtal des 18. und 19. Jahrhunderts zu erkunden. In den oberen Geschossen wird «aufgetaucht» und sich mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Fragestellungen auseinandergesetzt. Das erfordert ein «Eintauchen» in persönliche Problemstellungen, wie Gerechtigkeitsfragen, Identität und Toleranz. Der jüdische Kulturweg lädt dann zum «Ausschwärmen» und zu Erkundungen in der Umgebung ein. Eine neue Website wurde jüngst aufgeschaltet, das Logo ist entwickelt, der Wettbewerb für die Szenografie und die Museumspädagogik läuft: «Eine Jury prüft derzeit die Eingaben von vier renommierten Büros. Bis im Sommer soll der Entscheid gefällt sein.» Das Projekt ist in Fahrt.

Das Engagement für die Doppeltür
Unsere Besichtigungstour ist beim künftigen Begegnungszentrum angekommen. Ob das Haus auch die Verbrechen an Juden wie den Holocaust und aktuelle Konflikte wie die Situation in Palästina thematisieren wird? «Wir konzentrieren uns auf unsere lokale Geschichte. Bei ‘Doppeltür’ geht es weder um den Holocaust noch um Israel noch um Vergangenheitsbewältigung, sondern um das respektvolle Nebeneinander zwischen Konfessionen und Minderheiten», erklärt Keller. «Wir wollen lustvoll die positiven Aspekte vermitteln und anregen.» Er ist stolz auf die Geschichte des Surbtals, die «in einer Zeit, in der öffentliche Auseinandersetzungen zunehmend polemisch und respektlos geführt werden, als Gegenbeispiel gelten mag.» Neben seinem Engagement als Präsident des Vereins Doppeltür, dessen Aufgabe es ist, «das Projekt auf verschiedenen Ebenen am Laufen zu halten», führt Keller ein Bauunternehmen mit rund zwanzig Mitarbeitenden.

Wohl nicht nur deshalb springt es ihm gleich ins Auge: Bei einem Nachbargebäude wurden die historischen Doppeltüren abmontiert. Sie liegen noch auf dem Vorplatz, während bereits neue, billige Holztüren eingesetzt wurden. «Das geht natürlich nicht,» sagt er nachdenklich, «so verschwinden immer mehr wertvolle Zeitzeugen», und dokumentiert die Situation mit einem Foto.

(Quelle Artikel: AAKU – Aargauer Kulturmagazin Nr. 45, Seiten 22+23, Text Michael Hunziker, Mai 2021)

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